Verbundenheit

Die Zwillingsschwester als Geburtshelferin: "Weil ich mit ihr schon eine Geburt erlebt hatte ..."

Weil Julia nicht mehr mit dem Vater ihres Kindes zusammen war, nahm sie zur Geburt ihrer Tochter Leni ihre Zwillingsschwester Verena mit ins Krankenhaus. Die aber war selbst gerade erst Mama geworden – und musste immer wieder zum Stillen auf eine andere Station laufen ... In einem Brief erzählt Julia ihrer Tochter von ihrer 20-stündigen Geburt.

Enge Bindung: Verena (li.) war im Kreißsaal dabei, als Zwillingsschwester Julia Tochter Leni zur Welt brachte.© Foto: Patrick Lux
Enge Bindung: Verena (li.) war im Kreißsaal dabei, als Zwillingsschwester Julia Tochter Leni zur Welt brachte.

Meine geliebte kleine Leni,

ich schreibe diesen Brief, weil ich möchte, dass du immer weißt, wie besonders deine ersten Momente für uns beide waren. Wann immer du traurig bist oder dich Selbstzweifel plagen, lies diesen Brief, die Geschichte deiner Entstehung und Geburt. Und die Botschaft, die ich dir als deine Mama mitgeben möchte: Liebe überwindet ganz viele Hindernisse, und unsere Verbundenheit ist etwas außergewöhnlich Wunderbares. Aber von vorne ...

An Silvester 2014 erfuhr ich, dass ich mit dir schwanger bin. Die Voraussetzungen für eine Bilderbuchfamilie waren allerdings nicht gegeben: Deinen Papa kannte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht besonders lange. Unser erstes Date fand auf einem Weihnachtsmarkt in Altona statt. Wir mochten uns, doch es reichte nicht für mehr. Und als ich am Silvestertag wegen einer Blasenentzündung im Krankenhaus saß, verbrachte er gerade seinen Jahresurlaub bei einer anderen Frau in den USA. Dein Papa liebte seine Freiheit und Unabhängigkeit, so wie ich es bis zu diesem Tag auch tat.

Nun aber saß ich im Behandlungszimmer und stimmte wegen meiner ausbleibenden Periode einem Schwangerschaftstest zu. Er war positiv! 1000 Gedanken schossen mir durch den Kopf: Wie sollte ich das hinbekommen? Was würde dein Vater wohl sagen? Und was meine Familie? Ich hatte mich doch gerade erst von einer langen, ernsten Krankheit erholt und wollte wieder ins Arbeitsleben einsteigen. Was sollte jetzt daraus werden? Oh Gott, oh Gott! Doch neben all der Angst und Sorge spürte ich noch etwas anderes: Aufregung, Vorfreude und seltsamerweise auch richtige Begeisterung. Du erobertest vom ersten Moment an mein Herz im Sturm. Wegen dir erschienen all diese Fragen und Zweifel unwichtig. Ich wollte für dich alles Nötige probieren und tun, damit du zur Welt kommen und an meiner Seite wachsen kannst.

© Foto: Patrick Lux
Alle für eine: Als Leni (re.) zur Welt kam, waren auch Verenas Mann Marco (Mitte) und ihr Sohn Simon (li.) mit im Krankenhaus. Die Familien leben nur wenige Minuten voneinander entfernt, sehen sich fast täglich.

Von Anfang an stand eine Person dabei immer an meiner Seite: deine Tante Verena – oder Ena, wie du sie nennst. Sie ist mein Zwilling, meine Ergänzung, meine zweite Hälfte. Sie war zu diesem Zeitpunkt selbst im achten Monat schwanger mit deinem Cousin und Herzensfreund Simon. Der kam im Januar innerhalb von vier Stunden bei einer wahren Bilderbuch-Geburt auf die Welt. Onkel Marco stand Verena die gesamte Zeit bei und für mich stand danach fest, dass auch ich auf keinen Fall allein im Kreißsaal sein wollte. Und weil ich mit deiner Tante bereits eine Geburt erlebt hatte – ihre und meine nämlich –, konnte ich mir keine bessere Begleitung für diesen besonderen Moment vorstellen.

Als Geburtstermin wurde der 7. September ausgerechnet, doch du fühltest dich scheinbar noch sehr wohl in meinem Bauch und wolltest länger bleiben. Drei Tage später, am 10. September, war es – warst du! – schließlich so weit. Gegen Mittag setzten ziemlich starke, regelmäßige Wehen ein, die alle fünf Minuten kamen. Ich rief deinen Onkel und deine Tante an, gemeinsam fuhren wir ins Krankenhaus. 

Weil nicht viel Betrieb auf der Geburtenstation herrschte, durfte ich mir einen Kreißsaal aussuchen und wählte den mit Badewanne – genau den, in dem auch dein Cousin Simon zur Welt gekommen war. Auch ich hatte mir vorgenommen, so natürlich wie möglich zu entbinden, und setzte mich deshalb als Erstes ins warme Wasser. Doch nach der eigentlich geburtsanregenden Badestunde hatte sich mein Muttermund noch nicht weit geöffnet, die Wehen ließen sogar etwas nach. Die Prognose stand fest: Deine Geburt wird länger dauern!

Verena stand mir bei, während dein Onkel und Simon in einem Familienzimmer schliefen, bis du auf der Welt warst. Deine Tante musste jedoch ständig zwischen Zimmer und Kreißsaal hin- und herflitzen, weil sie deinen Cousin noch stillte. Das war für sie ganz schön anstrengend, doch ich konnte und wollte auf ihren Beistand einfach nicht verzichten. Also lagen deine Tante und ich nebeneinander auf dem Geburtsbett, ich kuschelte mich an sie, und wir redeten über Gott und die Welt. 13 Stunden lang! Trotzdem wollte der Muttermund einfach nicht aufgehen. Ich hatte das Gefühl, dass fünf oder sechs andere Frauen, die nach mir eingeliefert wurden, während dieser Zeit mit Baby im Arm ihre Kreißsäle verließen. Sogar das Hebammenteam wechselte. Doch bei uns beiden ging es nicht voran.

© Foto: privat
Leni wurde am 11. September 2015 geboren. Sie wog 3360 Gramm und war 53 Zentimeter groß.

So langsam machte auch mein Kreislauf nicht mehr mit, weshalb die Ärztin eine PDA anordnete, damit ich etwas Kraft tanken konnte. Dann platzte die Fruchtblase, und langsam setzten die Wehen wieder ein. Nach etwa 20 Stunden riss der Ärztin letztlich der Geduldsfaden. "Jetzt wird nicht mehr geübt. Richtig pressen", wies mich die Ärztin an und half mit der Saugglocke nach. Endlich! Dein Kopf war da. "Das tat aber weh", dachte ich und freute mich darüber, dass es nun leichter werden würde. Zumindest hatte mir deine Tante versprochen, dass es nach diesem Anfang nicht mehr schlimmer wird. Doch als deine Schultern durch meinen Geburtskanal glitten, sah ich Sterne. Und so galten meine ersten Worte, nachdem du auf der Welt warst, auch deiner Tante: "Blöde Kuh! Du hast mich angelogen", motzte ich. "Eine Notlüge!", sagte Verena.

Doch soll ich dir etwas verraten? In der Sekunde, in der ich dich im Arm hielt, war alles vergessen. Ich hatte nur noch Augen für dich. Deine Tante sagt, dass ich sofort anfing, mit dir zu reden. "Ich bin da, mein Schatz. Mami ist da. Dir passiert nichts. Ist dir kalt? War das anstrengend? Das hast du toll gemacht, Leni!" Wie schön du warst. So lange Beine und was für ein bezauberndes Gesicht! 

"Wollen Sie die Nabelschnur durchschneiden?", fragte die Ärztin Verena, die mich erst etwas verdattert ansah, dann aber stolz die Schere ansetzte. Wenn ich dich heute frage, wer deinen hübschen Bauchnabel gemacht hat, antwortest du stets: "Tante Ena!"

Nach einer ersten kleinen Untersuchung wurdest du mir sofort wieder in meine Arme gelegt. Nie wieder wollte ich aufhören, mit dir zu kuscheln. Dein Papa und ich waren und sind bis jetzt leider keine Superhelden, die deine Geschichte vorbildlich gemeinsam schreiben. Doch wir haben dich bekommen, und du gibst mir jeden Tag so viel Zuversicht, dass wir es schaffen, unser Leben weiterhin positiv zu gestalten – vor allem, weil du es täglich in einem unvergleichlichen Maße bereicherst.

Ich liebe dich.

Deine Mama

... und hier gibt es noch mehr Geburtsgeschichten

Die Zeilen an Leni könnt ihr auch in unserem neuen "Leben & erziehen"-Buch nachlesen: Es enthält 30 wunderschöne Briefe von Eltern, die ihren Kindern von ihrer Geburt berichten. Manche sind aufregend, einige dramatisch, viele ungewöhnlich – und alle einzigartig, so wie auch jedes Baby es ist. 

"Die Geschichte deiner Geburt – Mein Brief für dich“, aufgezeichnet von Andrea Leim. 192 Seiten, mit Eintrageseiten für den eigenen Brief.
Migo-Verlag, gebundene Ausgabe 15 Euro, über Amazon,
für den Kindle, 9,99 Euro, über Amazon

Autorin: Andrea Leim